Oder sehen Sie das anders?
Jammern auf hohem Niveau
Es Schorschla liebt es, am Sonntag mal länger im Bett liegen zu bleiben. Ganz abgesehen von Winter- oder Sommerzeit. Ein erster Blick auf den Wecker und dann dieses selbstzufriedene Das-hab-ich-mir- jetzt-aber-auch-echt-verdient-Umdrehen. Und wenn es nur für eine halbe Stunde ist. Dann greift es Schorschla aufs Nachttischchen, holt sich das Tablet und scrollt ein bisschen durch die Nachrichten. Stau im Suez-Kanal, DSDS ohne Bohlen, Erfreuliches von Brose Bamberg, Löws Strategie für das Rumänien-Spiel und dann – es lässt sich ja nicht umgehen – auch ein bisschen Virus. Spiegel online ist eine Plattform, welche es Schorschla sehr schätzt. Und um 10.52 Uhr ploppte am Sonntag folgende Meldung auf: „Die Politik hat vergessen, dass diese Menschen zum Monatsbeginn einkaufen gehen müssen“. Im Artikel geht es um einen Mann namens Karsten Böhm, der als Sozialarbeiter Lebensmittel für die Berliner Tafel verteilt. Er freue sich über die Rücknahme der Lockdown-Beschlüsse an den Osterfeiertagen – Bedürftige hätten seiner Ansicht nach in der Pandemie ohnehin schon genug gelitten. Böhm wörtlich: „Ich glaube, diese Menschen wurden dabei schlicht vergessen. Das Thema Armut ist im Alltag der Pandemie für die Politik offenbar ganz weit weg. Für meine Kunden bei der Tafel ist es eine große Erleichterung, dass die Regelung des Oster-Lockdowns zurückgenommen wurde. Der Gründonnerstag ist der 1. April – gerade da die Supermärkte zu schließen mit anschließenden Feiertagen, wäre für viele eine Katastrophe gewesen“.
Spätestens beim Lesen des folgenden Satzes war es Schorschla hell wach. Denn Böhm bringt Zahlen ins Spiel: „Meine Kunden haben eine hohe Kompetenz, ihr Leben mit ganz wenig Geld zu gestalten. Die meisten erhalten Sozialhilfe oder die sogenannte Grundsicherung. Das sind bis zu 446 Euro für eine alleinstehende Person. Oder bis zu 1413 Euro für eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Am Ende des Monats ist das Geld einfach alle, diese Familien hätten sich nicht vorab mit Lebensmitteln eindecken können“.
Weshalb es Schorschla diesen Sozialarbeiter zitiert, fragen Sie sich. Es ist ganz einfach. Wenige Zeilen unter diesem Text, genauer gesagt die „Spiegel online“-Meldung von 9.00 Uhr trägt folgende Überschrift: „Deutsche horten in der Pandemie Rekordsummen“. Hier erfährt es Schorschla dann in wenigen Sätzen, dass die Bundesbürger im vergangenen Jahr so viel Geld auf die Bank gebracht haben, wie niemals zuvor: unglaubliche 1,73 Billionen Euro betragen die privaten Einlagen aktuell. Das Münchner Ifo-Institut schätzt die „Überschussersparnis“ 2020 in seiner jüngsten Konjunkturprognose auf 100 Milliarden Euro. Bis Jahresmitte würden die Einlagen weiter anwachsen, ist Jürgen Groß, Präsident des bayerischen Genossenschaftsverbands GVB, überzeugt. Es habe im vergangenen Jahr deutlich weniger Möglichkeiten für die Verbraucher gegeben, ihr Geld unter die Leute zu bringen, ergänzt Christian Nau, Geschäftsführer des Kreditbereichs beim Onlineportal Check24. „Urlaubsreisen waren kaum möglich, auch größere Anschaffungen gar nicht so einfach.“
Nicht einmal zwei Stunden liegen zwischen diesen beiden Nachrichten, deren Gegenüberstellung symbolisiert, wie weit die Finanzschere auch in unserem Lande auseinanderklafft. Wie unterschiedlich die einzelnen Leben der Menschen doch ablaufen, wer über Luxusproblemchen jammert oder tagtäglich echte Probleme bewältigen muss. „Wie hat sich Ihre Kundschaft in der Coronakrise verändert“, fragt der Reporter abschließend Karsten Böhm. Es kämen immer mehr Menschen, insgesamt versorge sein Team aktuell rund 180 Familien. Niemand denke daran, was passiert, wenn arme Menschen in Quarantäne müssen, mahnt Böhm. „Als Angehöriger der Mittelschicht kann ich in diesem Fall einfach bei Lieferando bestellen. Ich habe wahrscheinlich auch Freunde, die genug Geld haben, um für mich mit einzukaufen. Wenn dieses Netzwerk nicht existiert, wird es aber ganz schwierig. Unsere Kunden können nicht darauf zurückgreifen. Sie müssen Glück haben, dass ein Bekannter ihnen ihren Anteil von der Tafel mitbringt“. Ehrliche, glaubwürdige und bewegende Aussagen, die es Schorschla an diesem Sonntag tatsächlich noch lange beschäftigt und auch etwas eingenordet haben.
Denn sind wir einmal ganz ehrlich: Die meisten von uns jammern aktuell doch auf einem sehr sehr hohen Niveau. Oder sehen Sie das anders?
PS: Die Meinung vom Schorschla muss nicht immer mit der der Redaktion übereinstimmen.
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